Revolution oder Evolution? Gehen Distribution und Konsum von Fernsehen bald komplett „ins Netz“? Welche Strategien verfolgen Inhalteanbieter, Plattformen und Hersteller? Welche Rolle spielen dabei neue Technologien und Standards – und was wollen eigentlich die Zuschauerinnen und Zuschauer?
Diese Fragen beleuchteten wir im Rahmen der 6. Ausgabe unser beliebten Event-Serie Media Innovation Platform. Unter dem Titel “Talking about a (R)Evolution? Welche Rolle Broadcast und Broadband für Medienindustrie und Zuschauer zukünftig wirklich spielen” diskutierten hochkarätige Branchenvertreter und Experten die Transformation der Medienverbreitung von Broadcast zu Broadband in all ihren Facetten entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Die „MIP#6“ gab es auch zum “Anfassen” – in einem extra Ausstellungs- und Demo-Bereich.
Wir haben das Event für Sie hier kompakt und informativ in Text, Bild und Video nachgezeichnet, inkl. einer Bildergalerie – und wir freuen uns schon auf die siebte Ausgabe der Media Innovation Platform!
Andre Prahl (RTL Deutschland) Vorstandsvorsitzender der Deutschen TV-Plattform
„Die Zuschauer sind jetzt aktiver, anspruchsvoller und flexibler in der Art und Weise, wie sie Inhalte konsumieren,“ sagte Prof. Mike Friedrichsen, University of Digital Science, Potsdam, Brandenburg, in seiner Key Note. Das moderne TV-Erlebnis zeichne sich durch zeitversetztes Fernsehen, Binge-Watching, Multi-Tasking, interaktive Formate und soziales Fernsehen aus. Darauf müsse sich die Fernsehindustrie einstellen und neue Technologien nutzen, um den Zuschauern ein breiteres und vielfältigeres Angebot an Inhalten zu bieten.
Die Zukunft der Medienbranche und des Zuschauerverhaltens liege in der Kombination von Broadcast und Broadband. Während Broadcast weiterhin die Verbreitung von Inhalten in der Fläche ermögliche, biete Broadband personalisierte, interaktive und immersive Erfahrungen. Die Konvergenz dieser beiden Übertragungsmethoden eröffne neue Möglichkeiten für die Medienbranche, um ein vielfältiges und ansprechendes Angebot zu schaffen. Es gehe um eine kollaborative Nutzung, in der Broadcast und Broadband sich gegenseitig ergänzen und eine dynamische und interaktive Medienlandschaft schaffen. Die Zukunft des Fernsehens liege in einer hybriden Landschaft, in der Broadcast und Internet-Streaming koexistieren und den Zuschauern eine Vielzahl von Optionen bieten.
Personalisierung, On-Demand-Zugriff, hohe Qualität, Interaktivität, Originalinhalte und Benutzerfreundlichkeit sind nur einige der Aspekte, auf die sich die Zuschauer konzentrieren werden. TV-Plattformen müssten daher innovativ sein und sich kontinuierlich weiterentwickeln, um diesen Erwartungen gerecht zu werden. Die Zukunft des linearen Medienkonsums liege in der Interaktion, der sozialen Komponente und der Integration neuer Technologien. Die Medienbranche müsse sich auf diese Veränderungen einstellen und innovative Wege finden, um relevante Inhalte anzubieten und mit den sich wandelnden Bedürfnissen der Zuschauer Schritt zu halten.
Prof. Dr. Mike Friedrichsen,
University of Digital Science, Potsdam, Brandenburg
Prof. Dr. Mike Friedrichsen,
University of Digital Science, Potsdam, Brandenburg
„Die hybride Nutzung von audiovisuellen Medien von linearem TV bis TikTok hat sich als fester Standard etabliert“ konstatierte Christoph Mühleib, Geschäftsführer von SES Germany in seinem Vortrag. Es ginge also nicht um ein Entweder-oder, Broadcast und Broadband seien schlicht beide in den Haushalten vorhanden. Auf dem Weg zu einer potenziellen „All-IP-Verbreitung“ müsse man sich fragen, ob überall eine flächendeckende Versorgung mit ausreichenden Bandbreiten gewährleistet sei und ob eine rein IP-basierte Verbreitung von Inhalten an Millionen von Haushalten ökonomisch sinnvoll wäre.
Er wies ferner darauf hin, dass „All-IP“ eine ganze Reihe juristischer Fragen aufwerfe, angefangen von Datenschutz mit Blick auf transparenten Zuschauer bis hin zu ordnungspolitischen Szenarien in puncto Wettbewerb und Wettbewerbsrecht. Dieses Szenario würde auch die Diskussion verschärfen, wer in der digitalen Welt das Sagen hat. Content-Produzenten, Broadcaster, Plattform, Netzanbieter, nationale oder globale Konzerne? Und im Kundenverhältnis werfe es neue Fragen auf mit Blick auf Auswahl, Freiheit oder Abhängigkeit von einem Anbieter.
Auch aus ökologischer Sicht sei das Streaming linearer Programme problematisch. Schon heute verursachte das Internet laut Studien weltweit zwei bis vier Prozent der CO2 Emissionen – und ein großer Teil der Internetnutzung entfällt auf Streaming. Und dazu mache das Streaming von Live-Programmen derzeit erst weniger als 5 Prozent der Videonutzung aus.
Christoph Mühleib, Geschäftsführer SES Germany
Christoph Mühleib, Geschäftsführer SES Germany
„Die Menschen lieben nach wie vor Fernsehen, und das vor allem auf großen TV-Geräten,“ sagte Vincent Grivet, Chairman of HbbTV, in seinem Vortrag. Natürlich nehme die Nutzung von Streaming-Services zu, allerdings stünde lineares Fernsehen immer noch an erster Stelle für die Zuschauer. 15 Jahre nach dem Start von Netflix & Co. würde man dort jetzt feststellen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das Wachstum der Streaming-Branche stünde außerdem vor einer Reihe wirtschaftlicher und energiepolitischer Herausforderungen. Er unterstrich, dass die Umsätze mit werbefinanziertem Fernsehen und Pay-TV – bei erheblich geringeren Verbreitungskosten – schon heute deutlich über den Prognosen für die Streaming-Branche in den nächsten Jahren lägen.
Auch aus seiner Sicht wird es perspektivisch zu einer Koexistenz von Broadcast und Broadband kommen. HbbTV sei hier als offener Standard ideal geeignet, europaweit entsprechende Services und Geschäftsmodelle zu etablieren, ohne dass komplexe technische Anpassung an vertikale App-Technologien oder Inhaltsvereinbarungen nötig werden. Die HbbTV Association liefere dafür Spezifikationen und Tests, die die Bedürfnisse von Verbrauchern, Sendern und Herstellern erfüllen.
Vincent Grivet, Chairman HbbTV Association
Vincent Grivet, Chairman HbbTV Association
„Wir sind bei der BBC der Ansicht, dass das Fernsehen im Mittelpunkt eines erfolgreichen digitalen Übergangs steht,“ sagte Benjamin Rosenberg, Head of Distribution, BBC. IP werde in Großbritannien zum führenden Medium für die Übertragung avancieren, mehr als die Hälfte der Haushalte würde schätzungsweise bis 2030 ausschließlich IP-Übertragung nutzen. Man gehe davon aus, dass irgendwann in der Zukunft der Zugang zu Radio und Fernsehen ausschließlich über das Internet erfolgen wird.
Die Strategie laute daher “digital first”, die Priorisierung des Wachstums der digitalen Dienste. Dabei ginge es um die Produkte und die Bündelung des redaktionellen Angebots und der Online-Angebote. Die BBC habe sich das ambitionierte Ziel gesetzt, bis 2027 46 Millionen registrierte Kunden zu gewinnen, was etwa 80 Prozent der Bevölkerung entspricht. Die BBC sieht eine IP-Zukunft als eine große Chance, um allen Zuschauern Zugang zu qualitativ hochwertigen, personalisierten Diensten zu bieten – ohne die Kapazitätsbeschränkungen des Rundfunks.
Aktuell analysiere man dazu intern, welche Schritte von der BBC und anderen erforderlich wären, um den Übergang zu einer reinen Internet-Zukunft zu schaffen. Ein wichtiges Thema sei hier u.a. die digitale Ausgrenzung. So verfügten rund 10 Millionen Erwachsene in UK noch nicht über die digitale Kompetenz, um grundlegende Aufgaben wie das Einloggen, das Öffnen verschiedener Anwendungen oder sogar das Verbinden ihrer Geräte mit dem Wi-Fi auszuführen.
Benjamin Rosenberg, Head of Distribution, BBC
Innovationen zum Anfassen: Die Media Innovation Platform wurde von einer “Mini-Messe” begleitet, in deren Rahmen unsere Partner die bei der Konferenz diskutierten Themen durch Demos erlebbar machten:
DVB-I Pilotprojekt Deutschland: Demonstration des Standards DVB-I (I für Internet), der TV-basierte Dienste (lineares Fernsehen, VoD) auf Empfangsgeräten mit Breitbandzugriff über das Internet zur Verfügung stellt. Die User Experience ist ähnlich dem Empfang von DVB-Services über DVB-T, DVB-S oder DVB-C.
Fraunhofer FOKUS: Demonstration des Standards HbbTV-TA, der Targeted Advertising und den dynamischen Austausch von Werbespots ermöglicht und Demonstration von Media over QUIC – ein neues, in Entwicklung befindliches Übertragungsprotokoll, dass im Vergleich zu TCP niedrigere Latenzen und schnellere Startzeiten von Videos ermöglicht.
HD PLUS GmbH: Demonstration der HbbTV Operator App, die ohne externe Hardware die Funktionalität von Set-Top-Boxen direkt im Fernseher bietet.
Zattoo: Demonstration von linearem TV-Streaming und FAST Channels – Free-Ad-Supported Streaming TV, also kostenlose, werbefinanzierte TV-Sender, die über das Internet empfangen werden können.
Bernhard Widtmann, Principal Industry Specialist for Media & Entertainment, Amazon Web Services (AWS), gab Einblicke in die Chancen und Herausforderungen des Wandels von Broadcast zu Streaming. Er zeigte anhand von Beispielen auf, dass ein entscheidender Wandel im Medienvertrieb – wie die Verlagerung von Premium-Inhalten vom Rundfunkvertrieb hin zum exklusiven OTT-Streaming – bereits zu mindestens gleichbleibenden Zuschauerzahlen führen kann: So liegt die durchschnittliche Zuschauerzahl für das „NFL Thursday Night Football Game“ in den USA nach dem Wechsel von Fox Sports (13 Millionen) zu Amazon Prime Video bei 13 bis 15 Millionen.
Er unterstrich die Herausforderungen, die insbesondere mit dem Streaming solch großer Live-Events verbunden sind. So wurde die Übertragung der NFL-Spiele auf Amazon über ein Jahr lang auf der Infrastrukturseite vorbereitet, was zu einer Erhöhung der Internetkapazität in den USA um ca. 40 Prozent führte. Diese enormen Verkehrsspitzen stellten eine große Herausforderung für die gesamte Branche dar. So hätte das exklusive Streaming des WM-Finales 2022 allein in Frankreich (29 Millionen TV-Zuschauer bei TF1) bei einer HD-Unicast-Bitrate von fünf Megabit pro Sekunde zu einer theoretischen Gesamtrate von 145 Terabit pro Sekunde geführt – das Zehnfache des historischen Spitzenverkehrs, den der Frankfurter Internetknotenpunkt CIX jemals erreicht hat. Um dieses Problem zu adressieren, müssten Internetprovider, Plattformen und Inhalteanbieter eng zusammenarbeiten. Die bloße, ständige Erweiterung von Serverkapazitäten sei keine tragfähige Lösung.
Bernhard Widtmann,
Principal Industry Specialist
Media & Entertainment, AWS
Was braucht es heutzutage, um OTT und Internet-Video tatsächlich auf die Straße zu bringen? Diese Fragestellung adressierte Dr. Stefan Arbanowski, Director Future Applications and Media, Fraunhofer FOKUS. Er schlug die Brücke zwischen den dafür notwendigen Schlüsseltechnologien und gab einen Ausblick auf neue Technologien und Standards. Ob Live oder auf Abruf: Es wurde deutlich, wie komplex die Streamingwelt technologisch ist – mit all ihren Formaten, Codecs, Playern, Apps und DRM-Systemen für die Verbreitung von Inhalten über die verschiedensten Netzwerke, Plattformen und Endgeräte. Normen, Standardisierungsorganisationen und Industrieforen würden hier helfen, um diese Technologien miteinander zu verbinden und Entwicklungen zu beschleunigen.
HbbTV und der neue Standard DVB-I könnten als Brückentechnologien zwischen Broadcast und Broadband fungieren und den Zuschauern das Beste aus beiden Welten mit sehr guter Usability bieten – bei DVB-I etwa durch die Abbildung von klassischem Live-TV, OTT- und VOD-Services in einer benutzerfreundlichen Serviceliste, die sich wie ein EPG bedienen lässt. Er sprach auch neue Technologien an wie etwa Media over QUIC. Dieses Protokoll weist im Vergleich zu TCP deutlich geringere Latenzen auf und ermöglicht einen viel kürzeren Verbindungsaufbau für die Nutzung von Videos über IP.
Dr. Stefan Arbanowski, Director Future Applications and Media Fraunhofer FOKUS
Dr. Stefan Arbanowski, Director Future Applications and Media Fraunhofer FOKUS
Joachim Abel,Vice President Product & Processes TV, Deutsche Telekom
Dr. Niklas Brambring, CEO Zattoo
Sascha Molina, Produktionsdirektor NDR
Benjamin Rosenberg, Head of Distribution, BBC
Philipp Rotermund, CEO Video Solutions